Paraschat „WAJESCHEW“
aus:
Belebende Parascha
Thora-Deutungen des Lubawitscher Rebben für die Gegenwart
von Rabbiner Benjamin Sufiev
DAS JÜDISCHE VOLK IN DER GALUT
Unser Wochenabschnitt erzählt uns von der Lebensgeschichte Josephs, welcher als
Sklave nach Ägypten verkauft wurde, und von all seiner Mühsal, durch welche er
schließlich zur rechten Hand des Pharao wurde. Bei näherer Betrachtung seines
Schicksals erkennen wir plötzlich, dass die Geschichte Josephs eigentlich die Geschichte
des jüdischen Volkes in der Galut widerspiegelt.
Joseph, der Lieblingsohn Jaakows, wurde plötzlich seinem Haus entrissen, seiner
Familie und Heimat, und als Sklave in ein fremdes Land verkauft. Er geriet in eine harte
und grausame Welt, wobei das allergrößte Übel darin bestand, dass er an seinem elenden
Schicksal keinerlei Schuld hatte.
Jemand anderen hätte diese Misere verbittert und verzweifeln lassen; er wäre am
Boden zerstört. Joseph jedoch begriff, dass er auch mit dieser Lage klarkommen muss. Als
Knecht des Potifar verrichtete er seine Aufgabe auf die bestmögliche Weise, bis
seinetwegen sein Herr Potifar in all seinen Belangen gesegnet wurde. Denn auf diese
Weise verhält sich der jüdische Mensch - in jeder Situation bemüht er sich, seine Aufgabe
auf die bestmögliche Weise zu erfüllen.
Starker Glaube
Wie hatte ihm Potifar seine hingebungsvolle Arbeit vergolten? - Er warf Joseph in den
Kerker! Und warum das? - Weil er seinem Herrn gegenüber loyal blieb und ihn nicht
betrügen wollte: „Siehe, mein Herr vertraut mir alles an ... wie kann ich diese große Übeltat
begehen?“
Joseph wird erneut mit der nackten Wahrheit konfrontiert, dass sein Fleiß, Anstand
und seine Ehrlichkeit ihm nicht nur Gutes bescheren, sondern sogar das Gegenteil - er
landet dafür im Kerker. Doch auch dieser Umstand lässt ihn nicht in Verzweiflung versinken
und seinen Lebensweg verändern. Selbst während seines Gefängnisaufenthalts hält
Joseph an seiner Lebenseinstellung fest und vollbringt die ihm auferlegten Aufgaben in
Hingabe und auf die bestmögliche Weise, damit erneut ein Zustand entsteht, „in welchem
all sein Handeln von G‘tt gesegnet ist“. Denn auf diese Weise verhält sich der jüdische
Mensch - selbst die Undankbarkeit und Sittenverderbtheit der Menschen um ihn
schwächen nicht seinen Glauben und die hingebungsvolle Erfüllung seiner Aufgabe auf
Erden.
Undankbarkeit
Im Gefängnis trifft Joseph eines Tages die zwei eingesperrten Fürsten an, die voller Trauer
sind. Joseph begreift, dass sie etwas sehr bekümmert. Obwohl er Grund genug hat, sich
ihres Leides zu erfreuen, da einer von ihnen den unschuldigen Joseph in den Kerker warf,
denkt er nicht an Rache oder ist schadenfroh. Sobald Joseph Menschen antrifft, die keinen
Ausweg aus ihrer Notlage sehen, bietet er ihnen seine Hilfe an. Tatsächlich kann er ihnen
beistehen, indem er ihre Träume deutet.
In dieser Situation erlaubt sich Joseph eine kleine Bitte an einen der Fürsten zu
stellen: „Sei mir bitte gnädig und erwähne mich vor dem Pharao.“ Joseph bittet nicht um
Geld oder irgendeinen Nutzen als Gegenleistung für die Deutung der Träume. In seinem
starken Glauben an Gerechtigkeit und Anstand bittet er lediglich, dem Pharao von seiner
Lage zu erzählen, nicht mehr als das, und auch das erst, nachdem der Fürst die
Bewahrheitung der Traumdeutung erfährt. Und wie verhält sich der Fürst? - „Und der
Mundschenk erwähnte Joseph nicht und vergaß ihn.“
Gut um Böse
Joseph begreift, dass die Welt voller Lügen ist und sich darin nicht einmal ein Funke von
Anstand verbirgt. Als er schließlich zum Vizekönig ernannt wird und alle Macht in Händen
hält, hat er die Gelegenheit, sich bei all jenen zu rächen, die ihm Schlechtes getan haben.
Doch ein Mann wie Joseph würde sich nie auf diese Weise verhalten. Er bleibt derselbe
anständige Joseph und investiert all seine Kräfte in die Regierung des Landes und dessen
Rettung aus der Hungersnot.
(Sichot Kodesch, Hitwaadut Wajeschew, Jahrgang 5728)